Erfolgreicher ZEF-Workshop „Narration/Transformation: Interdisziplinäre Perspektiven“
In einem einleitenden Impuls gab Roy Sommer (Anglistik) einen kurzen Überblick über Narrativbegriffe. Am Beispiel von zwei literaturwissenschaftlichen Erzähldefinitionen aus aktuellen Überblicksdarstellungen (Matías Martínez und Martin Huber), dem Narrativbegriff des Weltwirtschaftsforums in Genf/Davos (Klaus Schwab, The Great Narrative) sowie der Konzeption der Narrativen Ökonomie des Nobelpreisträgers Robert Shiller zeigte er die Vielfalt von Anwendungsmöglichkeiten auf. Der Narrativbegriff, so das Fazit, ist ein inter- und transdisziplinäres Schlüsselkonzept, das sich in besonderer Weise für ein fächer- und fakultätsübergreifendes Forschungsparadigma eignet.
Stefan Freund (Klassische Philologie/Latein) befasste sich dann in dem ersten von vier Vorträgen mit dem „Lehrbuch der Theologie“ von Laktanz. Im Mittelpunkt stand einerseits die Beobachtung, dass kulturell relevantes Grundwissen in der Spätantike narrativ strukturiert ist. Andererseits zeigte Freund anhand eines idealtypischen Modells, wie eine sehr kleine Bildungselite, die über einen homogenen Wissensstand verfügt (kanonisierte Dichterlektüren), bestehende Narrative weiter- und umerzählt. So bereitet Laktanz den Weg für die Konkretisierung christlicher Jenseitsvorstellungen anhand von vergilischen Modellen und Bildern. Die anschließende Diskussion zu Erwartungshorizonten, Formen der Selbstreflexion, die Funktionalisierung der Narrative und Freiheiten bei deren Auslegung stellte eindrucksvoll unter Beweis, dass die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit frühen Texten unmittelbar anschlussfähig ist an aktuelle Theoriekonzepte.
Matthias Grüne (Germanistik) führte anschließend in den neuen Forschungsansatz der Genetischen Narratologie ein, die sich mit der Entstehung von Erzähltexten befasst. Unter Rückgriff auf Schmid, Todorov und Bal entwickelte Grüne die Grundzüge des neuen Paradigmas und stellte dabei die These auf, dass es möglich sei, generalisierende Aussagen über realgenetische Vorgänge zu treffen und abstrahierende Modelle zu entwickeln. Auch wenn man in manchen Fällen nicht über die Phänoebene (der faktisch vorliegende Text) hinausgelangen könne, sei das prinzipiell doch möglich. In einem Ausblick auf das Konzept des poetogenen Narrativs (eine Struktur, die dazu neigt, neue Erzählungen hervorzubringen) fragte Grüne danach, wie komplexe Erzählungen aus Narrativen generiert werden und wie sich Narrative in Erzählungen transformieren lassen. In der Diskussion wurden u. a. die Chronologie der genetischen Perspektive, die Unterscheidung von narratogenen und poetogenen Texten und das Erkenntnispotential einer Analyse realgenetischer Prozesse problematisiert.
Nach der Mittagspause stellte Carolin Gebauer (Anglistik) ein neues Forschungsfeld vor, die „Narrative Mobility Studies“. Die Konzeption der Mobility Studies stammt aus den Sozialwissenschaften, insbesondere der Soziologie, der Geographie und der Anthropologie, die den gesellschaftlichen Einfluss unterschiedlicher Formen und Praktiken von Mobilität untersuchen. Jedoch zeigte Gebauer, dass im Zuge einer geistes- und kulturwissenschaftlichen Erweiterung des Mobilitätsparadigmas in jüngster Zeit auch andere Fragen in den Mittelpunkt gerückt sind, zum Beispiel nach der Art und Weise, wie Mobilitätsnarrative Herrschaftsstrukturen zum Vorschein bringen, etwa das Narrativ der Sesshaftigkeit, in dem ‚mobile Individuen‘ als problematisch dargestellt werden. Gebauer setzte sich in diesem Zusammenhang mit der gegenwärtigen Kritik an einer „metonymischen“ Verwendung des Narrativbegriffs auseinander und plädierte für eine breite Konzeption, ohne die interdisziplinäre Forschungsfelder sich nicht erschließen lassen. Die Diskussion konzentrierte sich auf den Zusammenhang zwischen Mobilität und Nachhaltigkeit, Perspektiven einer Narratologie der Bewegung sowie die Mobilität von Objekten.
Der vierte Vortrag des Workshops von Maria Behrens (Politikwissenschaft) nahm seinen Ausgangspunkt beim Konzept der sozial-ökologischen Transformation, das auf Polanyi zurückgeht. Behrens führte sodann die Unterscheidung zwischen Rational-Choice-Institutionalismus und dem werte- und normbasierten soziologischen Institutionalismus ein, um dann den Stellenwert von Narrativen zur Diskussion zu stellen. Letztere transportieren, so Behrens, Ideen und Normen, die intersubjektiv in einer Gemeinschaft geteilt werden, und können prinzipiell neue Basisinstitutionen hervorbringen. Am Beispiel der Klimapolitik zeigte Behrens abschließend, wie zwei völlig gegenläufige Narrative machtstrategisch um die Diskurshoheit ringen. Am Beispiel eines AfD-Zitats führte sie dabei vor, dass sich narrative Statements nicht immer klar zuordnen lassen, was ihre Wirkmächtigkeit noch steigert. In der Diskussion wurden u. a. das Intentionalitätskonzept, der Wahrheitsbegriff, die Rolle von Framing und der Stellenwert von Metanarrativen thematisiert.
In der Abschlussdiskussion wurde von allen Anwesenden ein sehr positives Fazit gezogen: der Auftakt zur inhaltlichen Profilbildung ist gelungen. die Teilnehmenden kamen überein, den Freitagstermin beizubehalten und den nächsten Profilbildungs-Workshop im November 2024 der Abgrenzung von Narrativ- und Diskursbegriff zu widmen. Über die Mailingliste soll eine Doodle-Abfrage zur Terminfindung erfolgen. Das Format wird leicht abgeändert: durch die Verlängerung um eine Stunde (10:00-16:00 Uhr) und die Reduzierung auf drei Vorträge soll es Zeit für Arbeitsgruppen und längere Diskussionen geben. Außerdem wurde angeregt, die Soziologie einzubinden. Das ZEF wird diese Ideen aufgreifen – wir freuen uns auf die Fortsetzung der gemeinsamen Arbeit im Wintersemester!
Kontakt: zef@uni-wuppertal.de